Page 125 - Bo_Solothurn_14
P. 125

 Der russische Schweizer –
ein literarisch-zeitgenössischer Einblick
Text und Interview: Bianca Ritter Foto: Evgeniya Frolkova
Michail Schischkin wird international als einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller der Gegenwart gefeiert. Seine Bücher sind in über 30 Sprachen übersetzt. Als einziger Autor wurde er in seiner Heimat mit den drei wichtigsten Literaturpreisen ausgezeichnet. Dies, obwohl Schischkin auch als harter Re- gimekritiker gilt. Zusammen mit seiner Familie wohnt er heute im Kanton So- lothurn. Das «Best Of» hat sich mit ihm unterhalten.
Herr Schischkin, Sie leben seit 1995 in der Schweiz. Weshalb gerade unser Land? Was macht die Eidgenossenschaft aus Ihrer Sicht so besonders? Und was macht den Wohlfühlfaktor im Kanton Solothurn aus?
Meine damalige Frau war Schweizerin, also habe ich die Schweiz nicht gewählt. Man wählt das Schicksal nicht. Ich habe dieses rätselhafte Land in zwei Büchern für mich «gelöst»: «Die Russische Schweiz» und «Auf den Spuren von Byron und Tolstoi. Eine li- terarische Wanderung vom Genfer See ins Berner Oberland». Und in der schönen Wan- dergegend im Jura habe ich den Wunsch- traum der russischen Schriftsteller erfüllt, das ganze Jahr auf der Datscha zu leben.
Von Ihrer ursprünglichen Heimat Russ- land haben Sie ein sehr differenziertes, um nicht zu sagen kritisches Bild. Als harter Regimekritiker von Putin und Co. haben Sie sich eine internationale Repu- tation erarbeitet. Was müsste sich Ihrer Ansicht nach verändern, damit Söhne wie Sie oder auch Alexei Nawalny bei «Väter- chen Russland» frei atmen könnten? Wird dies überhaupt je möglich sein?
Die jungen Leute, die in Russland gegen das Regime auf die Strassen gehen und brutal niedergeschlagen werden, vertei- digen nicht nur ihre menschliche Würde, sondern die Würde der ganzen Menschheit. Sie wollen keine Gewalt anwenden, und das macht sie gegen die staatliche Gewalt- maschinerie machtlos. Vielleicht kann die Demokratie in Russland überhaupt nicht siegen. Aber es wird immer Menschen ge- ben, die für die demokratischen Prinzipien
kämpfen und ihre Leben opfern werden. Im August 1991 war ich, damals ein junger Lehrer, zusammen mit meinen Schülern auf den Barrikaden in Moskau. Damals haben wir gesiegt. Wir glaubten, gesiegt zu haben. Nun ist die neue junge Generation an der Reihe, gegen das auferstandene Regime zu kämpfen. Vielleicht ist der aussichtslose Kampf um die menschliche Würde selbst auch der Sieg?
Interessant ist, dass Sie trotz Ihrer of- fenen Kritik am russischen System und als bisher einziger Autor in Russland mit den drei wichtigsten Literaturpreisen des Landes ausgezeichnet wurden. Wie ist bzw. war das möglich in einem Land, das Regimekritiker lieber mundtot macht und verschwinden lässt? Und was bedeuten solche Ehrungen generell für Sie?
Die Preise erhielt ich noch bevor ich in einem offenen Brief verzichtete, das putin’sche Russland bei internationalen Literaturfesti- vals vorzustellen. Ich schrieb: «Ein Land, in dem ein kriminelles, korruptes Regime die Macht ergriffen hat, in dem der Staat eine Verbrecherhierarchie ist, in dem sich Wahlen in eine Farce verwandelt haben (...) ein sol- ches Land kann nicht mein Russland sein. (...) Ich will und werde ein anderes, mein Russland vertreten, ein von den Usurpato- ren befreites Land, ein Land, dessen Behör- den nicht das Recht auf Korruption schüt- zen, sondern die Rechte des Individuums, ein Land mit freien Medien, freien Wahlen und freien Menschen.» Das war 2013, noch vor der Krim-Annexion, vor dem Krieg gegen die Ukraine mit 10 000 toten Menschen. Seit dieser Zeit gehöre ich in Russland zu den «Nationalverrätern».
Ihr vor zehn Jahren mit dem Internatio- nalen Literaturpreis «Haus der Kulturen der Welt 2011» geehrter Roman «Venus- haar» ist eine vielschichtige Parabel auf das verlorene Paradies und erzählt ein Jahrhundert russischer Geschichte. Was sind Ihre Gedanken zu diesem bekannten Oeuvre zehn Jahre danach?
Der Roman beschreibt Schrecken und Ge- walt unserer Realität und ist doch voll von Hoffnung und Liebe. In diesen zehn Jahren füllte sich die Welt mit noch mehr Schre- cken und Gewalt. Ich will glauben, die Li- teratur, die Musik, die Kunst seien etwas
wie die Arche Noah für die Hoffnung, Liebe, menschliche Wärme und Würde.
Vor zwei Jahren veröffentlichten Sie zu- sammen mit ARD-Korrespondent Fritz Pleitgen das Buch «Frieden oder Krieg» und stellten Fragen wie «Gibt es Anlass, Moskau zu misstrauen?» oder «Wodurch werden Spannungen zwischen Ost und West befeuert?». Hat dieses Buch zweier profunder Kenner Antworten liefern können?
Das Buch ist meine Erklärung Russlands und auch meine Liebeserklärung an meine Heimat. Viele Leute wollen Russland verste- hen, werden aber durch die «Putin-Verste- her» irregeführt. Ich habe sehr viele dank- bare Briefe erhalten. Ein Leser schrieb: «Ihr Buch hat meiner Liebe zu Russland gehol- fen, im Blut der Ukrainer nicht zu ertrinken.»
Bleiben wir gleich beim Thema Freiheit. Diese wird nicht nur in Russland, sondern in weiten Teilen der Welt vielschichtig beschnitten, Menschenrechte – und die Menschen, die diese vertreten – werden nicht selten mit Füssen getreten. Was ist verkehrt mit unserer Welt?
Nichts ist verkehrt, es war immer so. Die Geschichte jedes Landes ist eine zu lange Geschichte der Gewalt. Den Begriff «Men- schenrechte» kennen wir erst seit einigen Generationen, und nur in wenigen Ländern auf der Welt werden Versuche gemacht, diese Rechte wahrzunehmen. Mein Schwei- zer Sohn Konstantin machte eine Weltreise per Autostopp und sagte mir nach der Rück- kehr: «Ich dachte, so wie wir in der Schweiz leben, ist normal, und wie die da leben, ist nicht normal. Jetzt verstehe ich: Wir hier le- ben nicht normal.»
Gibt es etwas, das Ihnen zu guter Letzt noch am Herzen liegt? Gedanken, die Sie den Leserinnen und Lesern ganz spontan mit auf den Weg geben möchten? Kriege, Pandemien, Diktatoren kommen und gehen – gute Bücher bleiben.
Herzlichen Dank, lieber Michail Schischkin, für das sehr interessante Gespräch.
Weitere Infos: www.petit-lucelle.com
 1225













































































   123   124   125   126   127