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  Roman des Jahres von einem Zuger: Zwei Basler ziehen freiwillig in den Krieg
Text und Interview: Thomas Lüthi
Fotos: Dieter Kubli / bilgerverlag (Buchcover)
Wie wissen wir, ob ein Ereignis tatsäch- lich stattgefunden hat? Ein Streit unter Nachbarn zum Beispiel. Wenn der ges- tern war: kein Problem. Ein Foto in der Zeitung oder ein Augenzeugenbericht liefern Aufschluss. Doch je weiter ein Ereignis zurückliegt, sagen wir mal im August 1291 in der Innerschweiz, umso schwieriger wird es. Was ganz sicher ist: Da stand keiner auf dem Rütli und mur- melte «wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern» in den Bart. Das fühlt sich zwar gut an, ist aber von Schiller erfunden.
Als Historiker entwirrte der Steinhauser Urs Zürcher einst solche Überlagerungen von Fiktion und Geschichte und bot neue Ver- sionen an: ‹So könnte es gewesen sein›. Er nahm nie die absolute Wahrheit in Anspruch – wie das ernstzunehmende Historiker ge- nerell nie tun. Geschichtsschreibung ist viel- mehr von Vorsicht geprägt. Und es bleiben immer Lücken.
Jetzt ist Urs Zürcher Schriftsteller und kon- zentriert sich seit einiger Zeit mit zunehmen- dem Erfolg auf diese ‹Lücken›. Er lotet und weitet diese aus (Friedrich Schiller tat in sei- nem «Wilhelm Tell» übrigens genau das Glei- che). So startet Zürchers WG-Dramedy «Die Innerschweizer» vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, um dann ins Fantastische abzudriften. Sein neuer, packender Roman «Überwintern» bleibt im Hier und Jetzt, be- gleitet zwei junge Basler in die Ostukraine, wo sie als Söldner anheuern. Die beiden sind erfunden, der zeitgeschichtliche Kon- text ist sehr real. «Überwintern» wurde übri- gens von der NZZ am Sonntag zum besten Roman des Jahres erkoren.
Wie kamen Sie auf die Idee zu «Über- wintern»?
Ich stiess auf einen Artikel in der WOZ. Darin ging es um junge Europäer, die sich als Söldner in der Ostukraine verdingen. Den jungen Männern war es aber egal, auf welcher Seite sie kämpften. Das waren keine Überzeugungstäter, keine Dschi- hadisten. Sie gehörten keiner marginali- sierten Gruppe an, sondern stammten aus der Mittelschicht.
Warum wollen Ihre Hauptfiguren Jonas und Benjamin denn überhaupt in den Krieg?
Das ist die Grundfrage des Romans. Es gibt ja eine Rahmengeschichte: Jonas ist aus dem Krieg zurück- gekehrt und irrt durch Ba- sel. In einer grossen Rück- blende erzählt «Überwin- tern» dann ihre Geschichte. Was hat dazu geführt? Ich zeige die Familie der bei- den, ihre Beziehungen, kleine Krisen, Überdruss und Langeweile. Die bei- den verabschieden sich von ihrem Umfeld. Benja- min und Jonas werden zu Nihilisten, die im Krieg das Ende von jedem Sinn su- chen und glauben, durch das Auslöschen einer Zi- vilisation entsteht etwas Neues.
Für mich klingt das etwas
abstrakt ...
Es gibt halt kein einzelnes Ereignis, das sie zu Söldnern macht, sondern es ist ein Prozess und ein Zusammenspiel verschie- denster Kräfte. Ich selber wusste, wo ich mit meinen Figuren hinwollte – in den Krieg und wieder zurück. Ich hatte meinen roten Faden. Aber viel von dem, was unterwegs in ihnen vorgeht, habe ich während dem Schreiben herausgefunden. Die Figuren kriegen im Schreibprozess mehr Tiefe. Ich habe sie am Schluss besser verstanden. Ein Roman lässt ja auch Leerstellen. Das Bild, das ich erzeuge, ist nie so vollständig wie das, das man sich als Leser macht.
Sie lassen sich beim Schreiben also treiben?
Nur zum Teil. Bevor ich anfange, habe ich einen ungefähren Plot im Kopf. Ich muss mir überlegen, mit welchen Stilmitteln ich die Geschichte erzähle. Und ich muss meine Hauptfiguren genau kennen, wissen, wie sie reden, aussehen, gehen und riechen. Erst dann kann ich anfangen. Unterwegs erlebe ich Überraschungen. Etwa bei den Neben- figuren. Die fliegen einem manchmal zu,
bleiben kleben und können an Wichtigkeit gewinnen.
Sind Sie auch bei Ihrem ersten Roman «Die Innerschweizer» so vorgegangen? Nein, hier musste ich mir weniger Ge- danken machen zur Struktur. Es ist ja ein Tagebuchroman. Da ergab sich die Struktur von selbst.
Was hat Sie zum Historiker und Schrift- steller gemacht?
Bei uns in der Familie spielte Dorf- und Regionalgeschichte eine wichtige Rolle. Mich interessierte schon als Kind bren- nend, wie es früher war. Geschrieben habe ich schon in der Primarschule gerne. Am liebsten Aufsätze. Deutsch und Schreiben sind seit frühester Kindheit meine grossen Leidenschaften.
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