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 La Grinta
Text und Interview: Thomas Lüthi Fotos: PhotoFizza
Wer Sport als Zuschauer mitverfolgt, liebt diese Momente. Wenn sich Ta- lent, Wille und Kraft bei einem Ath- leten punktgenau bündeln, sie Aus- serordentliches leisten und bei uns Fernsehsportlern für einen Adrenalin- schub sorgen: Kraftpaket Didier Cuche in Kitzbühel 2011, der unwiderstehliche André Bucher am Letzimeeting 2001 oder natürlich die Schweizer Nati in der Schlussphase gegen Frankreich. An der Tour de France 2020 sorgte Marc Hir- schi bei Fernsehsportlern fast täglich für solche Adrenalinkicks – den gröss- ten in der 12. Etappe von Chauvigny nach Sarran – dem längsten Teilstück der damaligen Grand Boucle. Hirschi liess dreissig Kilometer vor dem Ziel den letzten Gegner stehen, zog davon und gewann die Etappe. Mit diesem Erfolg avancierte der Ittiger endgültig zur na- tionalen Sport-Celebrity und bestätigte eine Vermutung, mit der die Fachwelt schon länger geflirtet hatte: Hier reift ein Grosser des Radsports heran. Einer vom Schlage Cancellaras, einer der bald auch bei den grossen Rundfahrten ganz vorne wird mithalten können. Auch weil Marc Hirschi über «La Grinta» verfügt, den Instinkt ein Rennen richtig zu le- sen. Also zu spüren, wann der Gegner müde ist, an welches Hinterrad man sich heften muss und wo der eigene Angriff kommen muss.
Weiter tolle Resultate – Bronzemedaille Strassen-WM, Klassikersieg in Belgien – bestätigten die Progonose, dass es für den Ittiger nur eine Richtung geben würde – rauf, rauf, rauf! Doch in der vergangenen Saison harzte es. Hirschis Hüftprobleme waren so stark geworden, dass er sich Ende 2021 operieren liess. Man rechnete mit einem arg verspäteten Einstieg in die Saison. Jetzt hat er aber bereits aufhorchen lassen: Nach dem ersten Sieg an seinem ersten Rennen der Saison (Per Sempre Alfredo) landete
Hirschi an der gut besetzten Rundfahrt «Settimana Internazionale Coppi e Bartali» ebenfalls wieder auf dem Podest. Dass er damit an vergangene Erfolge anknüpfen kann – darauf hoffen die Fans. Vor dem Bild- schirm und am Strassenrand ...
... dort standen Sie vor nicht allzu lan- ger Zeit noch selber ...
Genau, mit der Familie folgten wir im Cam- per der Tour de France. Etwa zum Aufstieg an die Alpe d’Huez. Zusammen mit Tausen- den anderen auch – ein regelrechtes Volks- fest war das.
Bei so Bergetappen kommen einem
die Zuschauenden manchmal
gefährlich nah ...
Solange Sicherheitsabstände einigermas- sen eingehalten werden, ist das kein Prob- lem. Im Gegenteil: Da macht’s Spass. Pro- blematischer sind da fast die Flachetappen – wenn die Konzentration auch nur einen Moment weg ist und eine Person zu nahe kommt, gibt es Stürze.
Einem Velorennen hinterherzureisen: das macht nicht jede Familie!
Wir sind halt sportbegeistert. Mein Bruder spielte früher Fussball, fährt jetzt auch Velo- rennen. Meine Schwester ist Leichtathletin. Und mein Vater ist begeisterter ‹Gümmeler›. Die Leidenschaft und das Interesse für den Radsport habe ich von ihm. Er fuhr früher selbst Rennen, zeigte mir wie man ein Trai- ningstagebuch führt und nahm mich auf die ersten Ausfahrten mit. Erst auf dem Moun- tainbike, dann auf dem Rennvelo.
Wohin denn?
Ganz wichtig war unser Hausberg der Ban- tiger – am Anfang eine echte Knacknuss. Den fuhr ich als Jugendlicher x-mal hoch. Der Aufstieg ist giftig – auf wenigen Kilome- tern müssen mehrere hundert Höhenmeter überwunden werden. Der Clou: Den Gipfel mit dem Sendeturm sieht man schon lange vor dem Ziel. Eine zermürbende Sache! Denn sosehr man sich abmüht: Der Sende- turm will einfach nicht näher kommen. Und die Erschöpfung wächst stetig ...
... und man ist dabei alleine ...
Ja und nein. Natürlich war ich damals häu- fig solo unterwegs. Umso wichtiger wurde der Austausch mit Gleichaltrigen. Mein Vater nahm mich in seinen Verein mit, den Radrennclub Bern. Da entdeckte ich den Rad- als Teamsport. Wir trafen uns jeweils am Mittwochabend zum Training im Brem- gartnerwald. Einige von uns – darunter auch ich – kamen mit dem Bike dorthin. Wir machten Geschicklichkeitsübungen, fuhren über Baumstämme und machten Spiele wie «Abschtigerlis». Und wenn Sommer war und das Wetter mitmachte, schlossen wir das Training mit einem Bad in der Aare ab.
Ist Ihnen die Region Bern wichtig?
Selbstverständlich. Mehr denn je. Ich hab’s mal ausgerechnet – im letzten Jahr war ich rund 280 Tage an Rennen oder Trainings- lagern unterwegs – und doch ist es immer wieder schön, Familie und Freunde zu besuchen.
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