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 Der eigenwilligste Koch der Schweiz
Text und Interview: Isabel Hempen Fotos: ZvG
Der Theorieteil des Pilze- und-Flechten- Kurses ist gerade vorbei und die Kurs- teilnehmer haben sich mit einem Bio- logen in den Wald aufgemacht, um die Zutaten für das spätere gemeinsame Kochen zu sammeln. Stefan Wiesner hat deshalb ausnahmsweise etwas Zeit. Der «Hexer aus dem Entlebuch», wie er ge- nannt wird, bittet in die Kochwerkstatt neben seinem Gasthof Rössli in Escholz- matt, wo er inmitten eines inspirierenden Sammelsuriums von Kochbüchern, Zuta- ten aus Wiese und Wald und Schautafeln die Kurse seiner Natur-Akademie abhält.
Stefan Wiesner, Sie haben ein acht- gängiges Baum-Menü auf der Karte, für das sie alle Teile des Baumes verwen- den. Auch Steine und Metall kochen Sie. Wieso?
Viele dieser Geschmäcker sind den Leuten bekannt, weil sie schon als Kind Holz oder Steine in den Mund genommen haben. Was wir auftischen, erinnert die Gäste häufig an ihre Kindheit – Aromen, die gleichzeitig fremd und unterbewusst doch vertraut sind. Wir kochen die Speisen natürlich so, dass sie gut schmecken.
Sie gelten als kreativster und eigenwil- ligster Koch der Schweiz. Was zeichnet Ihren Kochstil aus?
Wir arbeiten vor allem monotypisch. Wenn ich mich also thematisch mit der Buche be- fasse, dann machen wir aus den Buchen- blättern eine Creme, sie werden gebacken und fermentiert, es gibt Buchendicksaft, geröstete Bucheckern, Bucheckernöl und Bucheckerntrester-Chips. Dadurch, dass die Texturen verändert werden, verändert sich auch der Geschmack. Und weil man eben die Buche selbst schmecken soll, werden ausser Zucker, Salz und Säure keine Ge- würze hinzugefügt.
Sie erzählen zu Ihren Menüs auch immer eine Geschichte.
Ja, das ist wichtig. Das Menü, das auf das Baum-Menü folgt, hat die Kuh zum Thema. Einem nordischen Mythos zufolge leckte die Kuh Eis und nährte durch ihre Milch zwei Rie- sen, sie wurde als Gottheit verehrt. Die Kuh
ist ja momentan weltweit der Buhmann, ich aber will ihr Respekt erweisen und sie wie- der ins richtige Licht rücken. Ich mache also beispielsweise einen Gang, für den ich eine in Milch gekochte Rinderzunge auf einem Eisblock mit caramelisierter Kondensmilch und getrocknetem Milchschaum serviere. So baue ich eine Geschichte auf, alle Gänge nehmen Bezug aufeinander.
Weshalb sind Ihnen Geschichten so wichtig?
Damit hole ich die Leute in meine Welt herein. Und die Geschichten wecken auch Emotio- nen und Erinnerungen. Deshalb vergessen meine Gäste diese Menüs nicht mehr.
Sie verwenden fast ausschliesslich Zuta- ten aus der Schweiz und sammeln diese oft auch selbst ...
Ja, Nachhaltigkeit ist für den Menschen die einzige Möglichkeit, um zu überleben. Ich will den Leuten die Natur näherbringen: das Schöne an ihr, aber auch die Dinge rund- herum, die nicht so schön sind. Wenn ich zum Apéro etwa Hacktätschli mit Colasauce mache, weil eben auch Kühe mit herumlie- genden Coladosen konfrontiert sind, dann soll das durchaus auch ein bisschen provo- kativ sein.
Früher sah man in Ihnen einen Spinner, heute gelten Sie als Visionär. Was hat Sie auf Ihrem Weg bestärkt?
Anfangs war es Geldmangel. Als meine Frau und ich das Restaurant von meinen Eltern
übernahmen, erlebten wir eine siebenjäh- rige Durststrecke, und für alles, was ich in der Natur holte, musste ich nicht bezahlen. Ausserdem bin ich schon auch ein bisschen ein Künstler-Typ. Früher kochte ich aber beispielsweise noch Heusuppe mit Cre- vetten, das war nicht fertig gedacht. Heute verwende ich nur noch Produkte aus der Schweiz und vor allem aus der Region, ab- gesehen von Kaffee und Schokolade.
Seit Jahren halten Sie 17 Gault-Millau- Punkte und einen Michelin-Stern sowie neu zwei grüne Michelin-Sterne für Nachhaltigkeit. Wird diese Bewertung Ihrer Küche gerecht?
Ich frage nicht nach, was ich tun müsste, damit ich 18 Punkte oder zwei Sterne be- käme – verbiegen will ich mich nicht. Klar, wenn ich mein Essen mit jenem auf Zwei- Sterne-Niveau vergleiche, «verhebt» meines auch auf zwei Sternen. Aber auf Zwei- und Drei-Sterne-Niveau musst du Glamour ha- ben, der fehlt uns. Bei uns können die Leute auch in Flipflops und kurzen Hosen kommen, und ins Restaurant gelangen sie durch den Hintereingang.
Sie sind kürzlich 60 Jahre alt geworden. Wie lange machen Sie noch weiter? Meine Arbeit ist mit einem enormen Kraftauf- wand verbunden. Mein grosser Wunsch ist, dass das, was ich aufgebaut habe, in irgend- einer Form weitergeführt wird. Es gibt dies- bezüglich auch schon Ideen. Die sind aber noch nicht spruchreif.
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