Page 87 - Bo_Luzern_11
P. 87

«Stifi» Reichmuth – sportliche Gedanken eines sympathischen Zeitgenossen
Text und Interview: Bianca Ritter
Foto: Jasmin Da Silva / Jasmin Photography
Stefan «Stifi» Reichmuth ist mehrfacher Schweizer Nachwuchs- und Elitemeis- ter im Ringen. 2019 holte er gar die für die Schweiz erste Medaille an einer WM. Was bewegt den Mann aus dem luzer- nischen Grosswangen? Einige Fragen, viele mögliche Antworten.
Der Ringsport ist hierzulande traditionell beliebt, das artverwandte Schwingen jedoch schwingt im wahrsten Sinn des Wortes obenauf. Warum ist das so? Und erklär doch einem Laien mal den Unter- schied zwischen den beiden Sportarten. Schwingen ist die traditionellste Schweizer Sportart und hat stets Volksfestcharakter. Die aktuell acht Schweizer Schwingfeste werden medial stark gepuscht und ver- marktet und sind daher enorm bekannt. Der Ringsport kann dagegen immerhin damit trumpfen, eine olympische und internatio- nale Disziplin zu sein. Ein Unterschied ist si- cher, dass Ringsport-Wettkämpfe immer in- door stattfinden. Und während wir unseren Ringerdress tragen, ist beim Schwinger die sogenannte Zwilchhose im Einsatz. Ringen ist aus meiner Sicht ein sehr ehrlicher Sport.
Ich habe gelesen, dass Du aus einer sehr sportlichen Familie kommst. Dein Va- ter war Turner, Schwinger und Ringer, dein Bruder ist Ringer, Deine Schwester Turnerin, Deine Mutter war auch aktive Turnerin. Was habt ihr da in den Genen, woher kommt der Antrieb?
Ja, wir haben da eine gute Mischung. Es ist sicher ein Stück weit so, dass unsere Eltern uns das vorgelebt haben. So sind wir drei Kinder fast selbstverständlich in die Sport- arten hineingewachsen. Ehrgeiz wächst au- tomatisch, wenn man bereit ist, alles zu ge- ben. Und Kameradschaft ist sicher auch ein gutes Argument für eine solche Betätigung.
An der WM in Kasachstan hast Du 2019 mit Bronze die allererste WM-Medaille im Freistilringen für unser Land geholt. Was bedeutet Dir das? Und was löst der Ge- danke an diesen Erfolg jetzt gerade aus? Das war eine Riesensache, geschichtsbuch- trächtig. Es war natürlich eine wunderschöne und sehr emotionale Bestätigung, der Lohn
für die harte Arbeit, die man tagtäglich inves- tiert. Ich habe immer noch Gänsehaut, wenn ich an jene Momente zurückdenke.
Du bist einer der erfolgreichsten Schwei- zer Ringer und hast hierzulande, aber auch sehr oft auf internationalem Rin- ger-Parkett, viele grossartige Preise ge- wonnen. Hast Du noch weitere sportliche Ziele für Dich definiert?
Ich möchte aufs Podest an der Europameis- terschaft im 2022. Und nach der Bronzeme- daille strebe ich an der nächsten WM Gold an. Thema Olympia: 2021 war ich in Tokyo auf dem achten Platz. Auch da gibt’s Luft nach oben in Paris 2024. Das sind ambitio- nierte Ziele, an denen ich arbeite.
Irgendwann kommt man im Leistungs- sport/Wettkampf an seine Grenzen. Und mit 30, 35 oder 40 hat man nicht mehr die Leistungsfähigkeit wie ein Newcomer. Machst Du Dir heute mit 27 darüber be- reits Gedanken?
Nein, ich arbeite von Zyklus zu Zyklus. Na- türlich ist es so, dass man mit 27 bereits nicht mehr den gleichen Trainingsplan hat wie mit 18 oder 20. Man muss sich stets an die Gegebenheiten anpassen. Bis 2024 ist jetzt mal alles geplant. Dann sehen wir weiter.
Was bewegt «Stifi» sonst noch so im Le- ben? Welchen Interessen, Leidenschaf- ten ausserhalb des Sports gehst Du nach? Kulturell, zum Beispiel.
Ich verbringe so viel Zeit wie möglich mit der Familie und mit Freunden. Da ich sehr viel unterwegs bin, schätze ich diese Zeitfenster umso mehr. Ich gehe gern ins Kino und mag auch Musik. Bei beidem bin ich sehr offen und schaue/höre querbeet, was mir gerade Spass macht. Willkommene Abwechslung finde ich – als gelernter Zweiradmechaniker – zudem im Bike-Shop meines Kollegen, wo ich ab und an aushelfen darf. Das tut mir gut, und ich denke nicht 24/7 ans Ringen.
Apropos Kultur. Die momentane Situation lässt längst nicht mehr alle am kulturel- len, sportlichen und sozialen Leben teil- haben. Wie stehst Du dazu?
Ist schon eine krasse Situation. Nur schon was mit dem Sport passiert ist und passiert. Als Beispiel die Austragungen vor leeren
Tribünen. Es ist ein heikles Thema, zu dem ich mich öffentlich nur ungern äussere, weil man rasch mal in ein Wespennest sticht. Ausserdem spüre auch ich eine Müdigkeit dem Thema gegenüber. Ich bin geimpft und habe wettkampf- und reisebedingt sicher schon über 100 PCR-Tests machen müs- sen. Mir ist egal, ob jemand geimpft ist oder nicht. Das sollte aber jede/r auch selbst für sich entscheiden können.
Im Moment steht die Welt Kopf. Nicht nur Corona, auch Umweltverschmutzung/Lit- tering, Naturkatastrophen/Klimawandel usw. prägen die News. Was macht das mit Dir?
Ich versuche selber stets Vorbild zu sein für andere. Beim Thema Abfalltrennen verhalte ich mich z.B. sehr korrekt, Littering gibt’s bei mir nicht. Jede/r sollte seinen Teil zu ei- ner besseren Welt beitragen. Da plädiere ich auch für den gesunden Menschenverstand. Und was die täglichen Gräuelnachrichten betrifft, versuche ich, mich nicht runterzie- hen zu lassen. Gewisse Dinge sind einfach, die kann ich nicht ändern. Ich bin viel un- terwegs und sehe schlimme Dinge. Dann denke ich oft auch, wie schön wir es in der Schweiz doch haben.
Und die Folgefrage: Wo würdest Du den Hebel ansetzen, wenn Du könntet und weltweit das Sagen hättest?
Wenn ich einen Hebel betätigen könnte, würde ich dafür sorgen, dass Geld und Es- sen gerecht auf dieser Erde verteilt würden. Es gäbe keine Hungertoten und armen Fa- milien mehr. Die Welt würde in dem Punkt wieder bei Null beginnen. Ich habe schon so viel Armut und Leid gesehen auf meinen Reisen. Wenn ich manchmal spüre, dass es unser grösstes Problem ist, ob wir nun das neue iPhone oder doch lieber das neue Samsung bevorzugen, gibt mir das schon zu denken.
Vielen Dank für die interessanten Antworten auf hoffentlich nicht immer alltägliche Fra- gen. Und viel Glück bei der weiteren sport- lichen Karriere.
www.stifi.ch
 827










































































   85   86   87   88   89