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 «Ich lasse mir immer alle Möglichkeiten offen»
Text und Interview: Isabel Hempen Fotos: Izaquiel Tome
Zoë Jenny war 23, als ihr erster Roman «Das Blütenstaubzimmer» erschien – und sogleich zum Bestseller avancierte, der in 27 Sprachen übersetzt wurde. Heute lebt die gebürtige Baslerin mit ihrer 12-jährigen Tochter und ihrem Partner bei Wien. Wir erreichen die 47-jährige Schriftstellerin per Videoanruf.
Frau Jenny, im März 2022 erscheint Ihr neuer Roman «Der verschwundene Mond». Dieser handelt von einem Astrophysiker, der ob der Beschäftigung mit den Sternen sein Leben, seine Familie und die Ereig- nisse auf der Erde vergessen hat. Was hat Sie an dieser Ausgangssituation gereizt? Astrophysik und die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft interessieren mich und ich habe für das Buch jahrelang zum Thema recherchiert. Was mich aber eigentlich fas- ziniert, und davon handelt der Roman im Grunde auch, ist das Bewusstsein – es ist in uns allen drin und trotzdem wissen wir darüber weniger als über die entferntesten Planeten. Der Protagonist des Romans hat nicht bemerkt, dass seine Frau und seine Tochter sich über die Jahre verändert haben und heute ganz woanders stehen als er. Das kommt ja häufig vor, dass man sich in einer langjährigen Beziehung auseinanderentwi- ckelt und sich irgendwann fragt: Habe ich den anderen eigentlich gekannt?
Beziehungskonflikte sind ein Thema, das in Ihren Erzählungen immer wieder auftaucht.
Es geht um Familienkonstellationen, im «Blütenstaubzimmer» sind sie das Haupt- thema. Was sind Beziehungen eigentlich und was kann alles passieren zwischen den Menschen? Das sind Fragen, die mich inte- ressieren und die ich auch im neuen Roman auszuleuchten versuche – ohne davon aus- zugehen, dass ich Antworten darauf finde.
Im «Blütenstaubzimmer» verarbeiteten Sie Ihre eigene schwierige Kindheit und Jugend als Scheidungskind. Als der Ro- man erschien, sagten Sie einmal: «Ich weiss nicht, wie das aussieht: das Leben zu geniessen.» Gelingt es Ihnen heute, das Leben zu geniessen?
In meiner Kindheit und Jugend war ich von Ängsten gequält und schwer depressiv. In so einem Zustand kann man nichts genies- sen. Später habe ich einige Jahre lang für ein Magazin bewusst nur über die schönen und oberflächlichen Dinge im Leben ge- schrieben und reiste dafür mit den exklu- sivsten Autos durch Europa, schlief in den schönsten Hotels und ass das beste Gour- met-Essen. Das war wie eine Therapie. Da habe ich die Leichtigkeit des Seins kennen- gelernt und auch genossen.
Sind Sie heute mit Ihrem Leben zufrieden?
Ich habe auf jeden Fall das Beste aus mei- nem Leben herausgeholt, auch wenn ich privat und beruflich immer wieder Turbulen- zen erlebt habe. Aber ich gehe nicht davon aus, dass diese jemals aufhören werden – so ist halt das Leben. Heute haut mich nicht mehr viel um.
Sie haben unter anderem in Basel, New York, Berlin, Bali, der Toscana und London gelebt. Zwischen 20 und 35 wa- ren sie dauernd unterwegs. Woher kommt diese Rastlosigkeit?
Vielleicht liegt es daran, dass meine Vor- fahren Fahrende waren. Inwieweit meine Rastlosigkeit wirklich genetisch bedingt ist, weiss ich nicht, aber genetische Program- mierungen sind ein interessantes Gebiet, das ich in meinem nächsten Buch aufgreifen möchte. Als Schriftstellerin ist man ja immer auch sein eigenes Forschungsobjekt.
Seit 2016 leben Sie in Wien. Haben Sie heute das Gefühl, angekommen zu sein? Was heisst ankommen? Darunter kann ich mir nicht viel vorstellen. Ich werde sicher wieder weiterziehen. Allerdings bin ich in- sofern angekommen, als meine Tochter
hier in Wien zur Schule geht und ich mich aufgrund der Gegebenheiten derzeit nicht fortbewege. Wenn ich allerdings allein wäre, wäre ich wohl schon längst wieder weg. In Bewegung sein, innerlich wie äusserlich, ist für mich lebenswichtig.
Aufgewachsen sind Sie in Basel. Was bedeutet Ihnen die Stadt?
Wegen meiner Herkunft und der familiären Verhältnisse ist die Beziehung zu meiner Heimatstadt eine für immer – ob ich will oder nicht. Was Basel angeht, bin ich ambivalent, aber durchaus interessiert. Ich plane auch einen Roman zu schreiben, der in Basel spielt; durch die Lage im Dreiländereck und die verschiedenen Einflüsse ist Basel ein sehr spannender Ort.
Können Sie sich vorstellen, wieder einmal in die Schweiz zu ziehen?
Ich kann mir immer alles vorstellen! Das ist das Schöne an der Vorstellungskraft: So- lange man lebt, ist immer alles möglich. Ich lasse mir immer alle Möglichkeiten offen. (lacht)
Arbeiten Sie bereits an einem neuen Buch?
Ich schreibe derzeit zwei Geschichten pa- rallel, das habe ich noch nie gemacht. Ich sage aber ungern, wovon sie handeln, da ich zwar einen ungefähren Plan habe, sich die Personen und die Handlung während des Schreibens jedoch verändern. In einem halben Jahr kann alles schon wieder anders sein.
Der Roman «Der verschwundene Mond» er- scheint am 10. März 2022 in der Frankfurter Verlagsanstalt.
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