Page 139 - Bo_Aargau_15
P. 139

  Die neue Musik von Dieter Ammann
Text und Interview: Maximilian Marti Foto: ©ReneMosele
Als ich neue Musik zum ersten Mal hörte, klang es für mich zu Beginn beinahe, als ob die Mitglieder des Philharmonischen Orchesters vor der Probe ihre Instru- mente einspielen würden. Es waren an- dere als die gewohnten Strukturen, die man von traditioneller Musik her kennt, etwa erkennbare Melodien, ein durchge- hender Rhythmus oder Akkorde, die sich wiederholen.
Man belehrte mich, dass ich Zeuge sei ei- nes bedeutenden Schrittes in unsere musi- kalische Zukunft, dass dort vorne Andreas Haefliger am Flügel sitze, einer der profilier- testen Pianisten unserer Zeit, und dass wir das Piano Concerto «Gran Toccata» hören, komponiert vom Zofinger Musiker, Kompo- nisten und Dozenten Dieter Ammann. Dieser sei international gefeiert und vielfach ausge- zeichnet, habe eine Professur für Komposi- tion an der Musikhochschule Luzern, lehre auch an der Hochschule der Künste Bern, sei weltweit vielfach ausgezeichnet worden und ein hervorragender Jazz-Musiker oben- drein. Das folgende Gespräch fand später in seinem Garten statt:
Herr Ammann, was verstehen Sie unter neuer Musik, und wie findet man Zugang zu ihr?
Musik ist eine Form der schönen Künste, dieser geistigen Welt, die schon immer vor- wärts drängte in neue Dimensionen. Viele heute bekannte Werke basieren auf dem spielerischen Umgang mit bereits Vorhan- denem und dessen Verwendung in immer anspruchsvolleren Varianten und instru- mentalen Kombinationen, je nach Genre bis hin zum Rock-Ohrwurm oder klassischen Werk. Die «Neue Musik» ist eine eigene Gattung, nämlich die komponierte Konzert- musik unserer Gegenwart, und klingt oft ziemlich anders als in früheren Epochen, etwa Barock, Klassik oder Romantik. Aber heutige Maler haben ja auch einen anderen Stil als etwa Rubens, und Schriftsteller ver- wenden nicht dasselbe Vokabular wie Schil- ler und Goethe. Neue Musik soll angehört werden als Ergebnis, das entstanden ist auf dem freien Spielfeld der aktuellen Kompo- nisten und Musizierenden, angetrieben von
ihrer Neugier, unter Verwendung ihrer ver- fügbaren Stilmittel. Die Komponisten, gene- rell die Künstler jeder Ära, versuchten, das vorhandene Material auszureizen und neue Ausdrucksmittel zu finden. Das geht natür- lich nicht durch Verharren an Ort, sondern nur mit Vorstossen auf unbekanntes Terrain. Die Weiterentwicklung, die von uns zeitge- nössischen Komponisten angestrebt wird, ist die neue Musik unserer Zeit, und das Beste davon wird, wenn wir unsere Sache richtig machen, wahrscheinlich zum Kul- turgut von morgen gehören. Es ist darum wesentlich, dass diese neue Musik gespielt wird, weil sie nur auf diesem Weg konsu- miert, erfahren, verstanden, genossen wer- den und Anerkennung finden kann. Es ist ja nicht nur in der Kunst essentiell, dass wir alle unsere Gegenwart aktiv gestalten, damit kommende Generationen ihre Gegenwart ebenso auf Traditionen aufbauen und sich weiterentwickeln können.
Was muss man mitbringen, um diese neue Musik zu verstehen?
Eigentlich nichts ausser Neugier, die Be- reitschaft, sich auf Neues einzulassen und diese neuen Erlebnisse nicht mit bereits gemachten Erfahrungen zu vergleichen. Diese Art Musik lebt nicht von bekannten Akkorden, sie lädt nicht ein zum Wippen, Schunkeln oder Tanzen. Schon eher zum Abenteuer, einen akustischen roten Faden aufzunehmen, seinem Weg zu folgen, zu hören, wie er sich durch die unterschiedli- chen Instrumente des Orchesters verändert, seine Verknüpfung mit anderen Fäden zu begreifen und das musikalische Klangge- webe wachsen zu hören, das der Kompo- nist aus seiner inneren Vorstellung in No- tenschrift festhielt. Wenn man zum ersten Mal mit neuer Musik konfrontiert wird, kann sie tatsächlich verwirrend klingen, wie eine fremde Sprache, die man zum ersten Mal hört und daher nicht versteht. Besucht man aber wiederholt Konzerte, offenbaren sich mit zunehmendem Verständnis Klangbilder, die ihre eigene Schönheit mit sich bringen. Gerade heute gibt es so viele unterschiedli- che Arten von zeitgenössischer Musik, dass sich genaues Hinhören noch nie so gelohnt hat wie jetzt für jene Freunde der Klassik, die grundsätzlich offen sind für Neues.
Sie sind im Jazz ebenso zu Hause wie in der Klassik – wie erleben Sie die unter- schiedlichen Welten?
Ich bin in einem musikalischen Haushalt aufgewachsen, in dem alles gespielt wurde, querbeet von Volksliedern über Haydn-So- naten zu Jazz, Pop und allem, wozu wir Lust hatten. Deshalb denke ich nicht in Katego- rien, Qualitätsmerkmale sind mir wichtiger. Erfüllt werde ich immer von der Musik, mit der ich mich gerade beschäftige, egal ob es Klassik, Neue Musik, Jazz, Rock, Pop, Punk oder was auch immer ist, egal ob ich komponiere, spiele oder zuhöre. Ist es nicht gerade ihre Vielfalt, mit der sie uns Musik- schaffenden und dem Publikum so viel zu geben vermag? Wie mannigfaltig die Vorlie- ben und Bedürfnisse des Publikums auch sein mögen, die Musik hat immer die pas- sende Antwort bereit. Darum bewege ich mich so gerne in diesem Umfeld. Jazz und Funk liebe ich nach wie vor sehr und spiele dies auch heute noch ab und zu als Musiker. Zum Komponieren kam ich beinahe durch Zufall, als das renommierte «ensemble für neue musik zürich» ein Programm gestal- tete, für welches Jazzmusiker komponie- ren sollten. Nach meinem Beitrag wurde ich angefragt für einen nächsten Auftrag, dann wieder einer und so weiter. So kam ich langsam zum Komponieren und entschied mich für diesen Lebensweg, ohne den des Musikers ganz zu verlassen. Beide Welten faszinieren mich. Wenn ich Jazz spiele, kann ich spontan und schnell improvisieren, beim Komponieren kann die Zeit schon mal stillstehen. Ich vertrete die Ansicht, dass auf hohem Niveau Musizierende das Recht haben, erstklassig komponiertes Material spielen zu dürfen. Einer meiner Komposi- tionslehrer fragte mich einmal, warum ich jede einzelne Note erklären wolle. Wenn ich für ein Orchester mit 70 Musikern schreibe, muss ich schon genau überlegen, welche Instrumente wie eingesetzt werden. Es gibt so viele Möglichkeiten, und ich habe den An- spruch, in jedem Takt die für mich optimale Lösung zu finden, vorher kann ich nicht wei- terschreiben. Das braucht Zeit und erklärt, warum ich für die «Gran Toccata» sogar bei- nahe drei Jahre benötigte, bis sie, offenbar nicht nur für mich, zu etwas wurde, was im Konzert berührt und zu begeistern vermag.
2139























































































   137   138   139   140   141