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Zweihaarpinsel
Text und Interview: Thomas Lüthi
«Kunst kommt von Können»: Absolut betrachtet ist diese Definition spiessig und dumm. Denn Kunst hat nicht nur mit Handwerk zu tun. So habe ich Bilder von Menschen mit zig Jahren Ausbildung gesehen und gleich wieder vergessen. Dafür erinnere ich mich an schepse Skulpturen aus Sagex an Weihnachtsaus- stellungen vor dreissig Jahren. Vielleicht weil sie mich nervten, Emotionen aus- lösten – im Gegensatz zu irgendwelchen Schinken im Louvre. Eine viel bessere Definition stammt von José Federspiel: «Kunst kommt von Kummer», heisst es in einem Rap des Bündner Hiphop-Pionier, der jetzt als selbstständiger Grafiker und bildender Künstler arbeitet. Bei ihm er- gänzen sich Handwerk und Inspiration. Beispielhaft dafür sind seine Insektenbil- der. Sie atmen Liebe zur Kreatur, lassen staunen über das, was um uns kreucht und fleucht. Federspiels Ameise, Fliege, Wespe oder Heuschrecke bleiben in der Erinnerung haften.
Wie hat alles begonnen?
Als Kleinkind erkrankte ich an Knochen- markentzündung, musste mich später wie- derholt OPs unterziehen. Ich verbrachte zweimal ein Jahr zu Hause, fast ohne Kon- takt zur Aussenwelt. In dieser Zeit begann ich zu zeichnen: Gesichter, Tiere und Muster – mit dem Bleistift. Schon als Kind wollte ich verstehen, wie Kunstwerke entstehen. Ich fand Giger, Picasso und Dali toll.
Warum denn?
Natürlich gefielen mir die Bilder selber. Aber auch die Technik dahinter. So sind Da- lis Bilder zum Teil winzig klein – mit einem Zweihaarpinsel gemalt. Wahnsinn! Oder Tuschzeichnungen von Giger. Als ich die im Original sah, wusste ich: Du hast noch viel zu lernen.
Sie interessieren sich ja aber nicht nur für Zeichnen und Malen ...
Ganz und gar nicht. Ich mag Mischformen. Während meiner Ausbildung an der Hoch- schule für Gestaltung und Kunst entdeckte ich Video. Und gemeinsam mit Kollegen stürzte ich mich auch in die Hiphop-Kultur. Da gehörten wir im Bündnerland zu den
Ersten. Anfangs hat’s mir vor allem Graffiti angetan. Da gewannen wir Wettbe- werbe – einmal sogar eine Reise nach New York.
Besteht da nicht die Ge- fahr, sich zu verzetteln? Eigentlich nicht. Ich bin ein ziemlich strukturierter Mensch, und wenn ich etwas mache, dann ma- che ich es richtig. Wenn ich mir eine Bilderserie vornehme, dann setze ich diese auch um.
Ihre Tierbilder sind ein schönes Beispiel dafür. Wie haben Sie dieses Thema gewählt?
José Federspiel
 Es war umgekehrt. Das
Thema hat mich gewählt.
Meine Frau und ich wollten nach Jahren in Zürich wieder in die Natur. Das sind alles Tiere, die mir begegnet sind – einheimische Arten, bei denen wir kaum je genau hin- schauen. Erst kamen die Insekten, jetzt sind Säugetiere dran. Als Nächstes mache ich einen Wolf. Den habe ich zwar noch nicht gesehen, aber gehört. Wir leben ja in der Nähe vom Calandagebiet ...
Was wollen Sie damit bewirken?
Ich bin ganz sicher kein Skandalbruder, will nicht provozieren. Viel eher berühren und zum Nachdenken anregen. Die abgebilde- ten Tiere können nur weiter existieren, wenn wir zur Umwelt Sorge tragen. Daran liegt mir viel.
Und wie sind die Bilder entstanden?
Das war eine extrem langwierige Arbeit. Weil ich Fotorealismus anstrebte, suchte ich ge- naue Fotos. Doch ich fand nie eines, das all meine Ansprüche einlöste. Perspektive, Licht, Details: irgendwo lag’s immer im Ar- gen. Und so habe ich verschiedene Fotos kombiniert. Teilweise bis zu zwanzig Stück. Die fügte ich am Computer zu einer Collage zusammen. Das war aber nur die Vorlage. Erst dann begann die wochenlange zeich- nerische Arbeit – mit einem digitalen Stift auf einem leeren, weissen digitalen Blatt. Bei manchen Details gab’s Leerstellen. Da
musste ich die Fantasie spielen lassen. Und wir haben ja vorhin von Verzettelungsgefahr gesprochen, wenn man in unterschiedlichen Kunstgattungen unterwegs ist. Bei den Tier- bildern habe ich genau das gemacht. Ich brachte und bringe meine gesamte hand- werkliche Expertise ein, um sie zu erschaf- fen. Die «Verzettelung» machte diese Bilder möglich.
Sie arbeiten ja auch im Auftragsverhält- nis. Müssen Sie sich da nicht verbiegen? Ganz und gar nicht. Ich vergleiche es immer mit dem Ausbau eines Hauses. Der Rahmen, also Mauern und Grundriss, ist da mehr oder weniger gegeben. Aber innerhalb die- ses Rahmens kannst du dich entfalten. Ich finde das unglaublich befreiend.
www.joséfederspiel.net www.mosillus.com
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