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 G.O.A.T.
Text und Interview: Thomas Lüthi
Fotos: Gabriel Monnet/Swiss Paralympic
Nicht mal dem grossen Emil Zatopek gelang an Olympia, was Rennrollstuhl- fahrer Marcel Hug an den Paralympics in Tokio schaffte. Zatopek, der erste moderne Langstreckenläufer, siegte an den Nachkriegsspielen 1948 in London über 5 000 m, 10 000 m und am Marathon. Hug holte in Tokio 2021 noch eine Gold- medaille mehr. Um Ausdauerathleten zu finden, die den Nottwiler an Olympia übertrafen, muss man in die 20er Jahre zurückgehen. In Paris 1924 gewann der Finne Paavo Nurmi fünfmal Gold. Danach war an Olympia keiner mehr besser. Keiner.
Zudem ist Hugs Bilanz bei den grossen Städtemarathons atemberaubend. Wäh- rend Kipchoge & Co. bloss zweimal pro Jahr antreten, gewann Marcel Hug alleine 2021 in Berlin, London und Boston – innerhalb von zwei Wochen. Weitere Rennen stehen noch bevor. Marcel Hug würde Vergleiche mit Sportikonen wie Nurmi oder Zatopek nie anstellen – auch aus Bescheidenheit. Doch weil der Rennrollstuhlsport der Leichtath- letik zugewandt ist, können nur Vergleiche mit anderen Ausdauerathleten veranschau- lichen, in welche Liga Marcel Hug gehört. Nämlich in die der G.O.A.T.s – Greatest of All Time –, wo Federer, Jordan und Ali zu Hause sind. Bei den Frauen bewegt sich auch Ma- nuela Schär dort oben.
Ihr zwei seid momentan kaum zu schla- gen. Warum ist die Schweiz so gut?
Man muss fairerweise sagen, dass andere Nationen ziemlich aufgeholt haben. Die Weltspitze ist zwar nicht breit, aber wir sind trotzdem ganz nah beeinander. Was die Schweiz angeht: Wir haben eine lange Tradition im Rennrollstuhlsport. Heinz Frei, Franz Nietlisbach, Edith Hunkeler und viele andere haben Pionierarbeit geleistet. Dann haben unsere Erfolge viel mit dem Paraple- giker-Zentrum Nottwil zu tun. Die Infrastruk- tur mit den Trainingsmöglichkeiten und dem medizinischen Zentrum ist unübertroffen. Ich sage immer: Die Fussgänger haben Magglingen, wir haben Nottwil. Und natür- lich spielt auch das Material eine Rolle.
Nicht zu vergessen der Faktor Talent. Wie hat eigentlich alles begonnen?
Als Zehnjähriger fuhr ich meine ersten Ren- nen. Dort begegnete ich übrigens meinem heutigen Trainer Paul Odermatt und habe rasch gemerkt, dass mir das liegt. Schon als Jugendlicher habe ich vom Paralym- pics-Sieg geträumt und mit einer Karriere als Profi geliebäugelt. Ich absolvierte das Sportler-KV, machte aber bald nach dem Abschluss den Schritt zu den Profis und ge- wann 2004 in Athen meine ersten Medaillen an paralympischen Spielen.
Bei Ihren Erfolgen müssten Sie längst mehrfacher Millionär sein!
Wenn ich sehe, was schon einige internati- onale junge Fussballer im Vergleich zu uns verdienen ... Es ist schon etwas unverhält- nismässig. Aber die Zeiten, in denen ich da- mit gehadert habe, sind längst vorbei. Ich kann es mittlerweile auch nachvollziehen, dass ich nicht steinreich bin und es wohl nie sein werde. Was ich aber enorm schätze: Dank meinen Sponsoren, der Verbandsun- terstützung und den Preisgeldern kann ich gut von meinem Sport leben. Ich konnte meine Leidenschaft zum Beruf machen. Ich empfinde das als enormes Privileg.
Sie absolvierten 2021 innerhalb von zwei Wochen vier grosse Marathonwettbe- werbe, gewannen dreimal. Wie ist das überhaupt möglich?
Wir sind weniger Schlägen ausgesetzt als die LäuferInnen. Unsere Muskeln werden deshalb weniger in Mitleidenschaft gezo-
gen. Wir dürfen wind- schattenfahren, kön- nen zwischendurch auch mal die Arme hängen lassen und uns erholen. Und weil wir bedeutend weni- ger lang unterwegs sind als die LäuferIn- nen, ist auch die Be- lastungszeit kürzer ...
... also könnte man Ihre Disziplin mit dem Radsport ver- gleichen?
Naja. Der grosse Un-
terschied dazu: Wir haben keine Gangschaltung und treiben die Räder mit den Armen an, statt den Beinen. Ich vergleiche unseren Sport von der Be- lastung her lieber mit dem Langlauf. Aber auch wenn es einige Unterschiede zu den LäuferInnen gibt: Wir gehören ganz klar in
die Leichtathletik.
Mit welcher Einstellung gehen Sie an
den Start?
Im Sport ist es allgemein wichtig, dass ich mich auf mich und meine Leistung konzen- triere und weniger auf die Konkurrenten achte. Deren Leistung kann ich nicht beein- flussen. Aber dafür meine. Es geht darum, die beste Version meiner selbst zu sein und im richtigen Moment mein Potenzial abzu- rufen. Und es geht auch um eine Balance: sein Ziel erreichen und dabei aber gelassen bleiben. Das ist mir wichtig.
Ihr Wissen geben Sie auch dem Nachwuchs weiter, im Swiss Silver Bullet Camp.
Genau. Neben Training, Ausflügen und ge- mütlichem Beisammensein vermitteln mein Trainer Paul Odermatt und ich auch Dinge, wie ich sie vorhin geschildert habe. Neben Gelassenheit gehört auch Demut dazu: Denn niemand bleibt von Niederlagen, Ent- täuschungen und Rückschlägen verschont. Sie sind ein wichtiger Bestandteil im Pro- zess zum Erfolg. Dank ihnen lernen wir Er- folge einzuordnen und zu schätzen.
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