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 Spüren, was die Gäste glücklich macht
Text und Interview: Isabel Hempen Fotos: Nik Hunger
Anna-Lena Franzelin hiess damals noch Anna-Lena Junge, als sie 2019 von Gault- Millau Schweiz zum «Sommelier des Jah- res» ernannt wurde. Die 31-Jährige, die seit 2016 den 12000 Flaschen umfassen- den Weinkeller von Andreas Caminadas Spitzenrestaurant mit 19-Gault-Millau- Punkten verantwortet, empfängt uns an einem regnerischen Sommertag auf Schloss Schauenstein in Fürstenau.
Frau Franzelin, Sie haben auf Schloss Schauenstein 900 verschiedene Weine auf der Karte. Sie kennen wohl jeden einzelnen?
Ja, wobei die meisten Weine verschiedene Phasen durchlaufen und sich mal besser, mal schlechter präsentieren. Natürlich kenne ich die Weine in ihrer Grundstilistik. Aber wenn ich sie ein halbes Jahr nicht probiert habe, weiss ich nicht, wie sie in Form sind.
Darauf zu finden ist auch eine grosse Auswahl aus der Bündner Herrschaft, die für ihre hochstehenden Blauburgun- der bekannt ist. Was empfehlen Sie einer Weisswein-Liebhaberin?
Auch beim Weisswein ist die Herrschaft extrem vielfältig, aber der spannendste ist der Completer. Eine ganz alte Rebsorte und eine Seltenheit, die von den jüngeren Win- zern wieder vermehrt angepflanzt wird. Es lohnt sich, ihn zu probieren.
Sie teilen sich die Sommelier-Stelle auf Schloss Schauenstein mit ihrem Mann Marco Franzelin, der 2017 ebenfalls Sommelier des Jahres war. Reden Sie privat nur noch über Wein?
Das ist natürlich schon ein grosses Thema bei uns (lacht). Das Schöne an unserer Arbeit ist, dass wir uns auch privat gerne damit auseinandersetzen und auch unsere Urlaubsziele entsprechend aussuchen.
Neben Wein haben Sie als Sommelière ja auch viel mit Menschen zu tun ... Stimmt, das Aufeinandertreffen mit Gästen und Winzern macht den Job so spannend, und ein gutes Feingefühl für Stimmungen und Vorlieben ist enorm wichtig. Man trifft auf viele Menschen, die sehr offen sind und
Andreas Caminada mit Anna-Lena und Marco Franzelin
sich beim Wein gerne beraten lassen. Und dann gibt es auch mal solche, die sehr feste Vorstellungen haben oder sich von einem «kleinen Mädchen» nichts Neues zeigen lassen möchten. Dann hat man als Somme- liere keine Chance, aber kann im besten Fall trotzdem den Lieblingswein aus dem Keller zaubern.
Ächz. Dabei wollte ich das Thema
«Frau und Wein» gar nicht anschneiden, weil es sich meiner Meinung nach
völlig erübrigt ...
Absolut! Früher hätten mich solche Reaktio- nen gewurmt, aber heute muss ich mir selbst nichts mehr beweisen. Es gibt seit Jahren super weibliche Sommeliers und grossartige Winzerinnen.
Was machen Sie als Vertreterin einer jungen Sommelier-Generation anders als Ihre Vorgängerinnen?
Viele ältere Sommeliers haben sich über die Jahre ein festes Repertoire zugelegt. Wir hingegen sind tendenziell offener und set- zen uns beispielsweise auch mit Naturwein auseinander, der im Hinblick auf die Zukunft ein grosses Thema ist. Es macht einfach Sinn, im Weinberg naturnaher zu arbeiten. Auch der Austausch untereinander ist durch die sozialen Netzwerke ein ganz anderer geworden.
Sie sind jetzt seit 2015 in der Schweiz. Wie gefällt es Ihnen?
Während der Ausbildung war ich überzeugt, dass ich niemals in der Schweiz arbeiten
würde – ich machte mir nichts aus Wan- dern und Skifahren und fand auch die Sprache nicht in- teressant. Heute möchte ich nicht mehr weg von hier. Ich liebe die Land- schaft, die Nähe zu Italien, die Bünd- ner Küche und die Mehrsprachigkeit. Vor zwei Jahren ha- ben mein Mann und ich oben am Berg ein Haus gekauft.
Das heisst, Sie bleiben?
Das wäre mal der Plan, aber man weiss ja nie, was kommt. Wir kriegen Ende Novem- ber Nachwuchs, was sicherlich eine Her- ausforderung wird, da die Grosseltern alle in Deutschland sind. Aber wir fänden es cool, wenn unsere Kinder hier zur Schule gehen würden. Und mittlerweile wandere ich auch gerne! (lacht)
Oh, gratuliere! Und bleiben Sie auch auf Schloss Schauenstein?
Ich kann mir nicht vorstellen, die Stelle zu wechseln. Wir haben extrem tolle Chefs, ein super Betriebsklima und auch privat ein sehr gutes Verhältnis. Es ist enorm, was alles für die Mitarbeitenden getan wird. Man erhält hier viele Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln.
Was möchten Sie beruflich noch erreichen?
Es klingt traurig, aber ich bin überhaupt nicht ehrgeizig. Als ich die Auszeichnung erhielt, wollte ich erst gar nicht an die Verleihung gehen – ich stehe absolut ungern im Mittel- punkt. An den Weinen dranbleiben und he- rausspüren, was die Gäste glücklich macht – das ist für mich das Wichtigste.
Verraten Sie uns Ihr Lieblingsrestaurant?
In der Schweiz ist das der «Schlüssel» in Mels. Die Küche hat einen Stern und ist sehr authentisch. Die bodenständigen Gerichte sind so lecker, dass ich sie selbst dann be- stelle, wenn es draussen 30 Grad hat. Und die Weinkarte ist der absolute Hammer.
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