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 Das latente Bild
Text und Interview: Thomas Lüthi Foto rechts: Nara Weigel
Foto links: Monika Baselgia-Hotz
Stockdunkel ist es in diesem kahlen Raum im obersten Stock des markanten Salz- und Kiessilos auf dem Bernina- pass. Nur durch ein winziges Loch fällt Tageslicht in den Raum – auf eine nach innen gewölbte Wand. Wenn sich das Auge ans spärliche Licht gewöhnt hat, erkennt man auf der Wand die Aussen- welt. Bloss stehen Lago Bianco und Piz Cambrena auf diesem Bild Kopf. Kein Trick, sondern simple Physik steckt hin- ter diesem Phänomen, das einem hier vor Augen geführt wird – eine Urform der Camera Obscura. Eingerichtet wurde diese vom Engadiner Fotografen Guido Baselgia in Zusammenarbeit mit den Architekten Bearth & Deplazes. Für ihn ist diese Camera Obscura «ein Zeichen gegen die immer schnellere Bilderflut». Der Besucher erlebt zudem, wie analoge Fotografie funktionieren würde: Durch eine Lochblende fällt Licht auf licht- empfindliches Material und hinterlässt ein Bild. In der Dunkelkammer wird dann das Bild sichtbar gemacht ...
Guido Baselgia hat nie anders als analog ge- arbeitet. In den 1980er-Jahren als Industrie- und Reportagefotograf natürlich auch, weil das sein Handwerk war. Jetzt, im digitalen Zeitalter, als Kunstfotograf, weil er es so will und muss, um zum gewünschten Resultat zu kommen. Seine Bilder von Landschaften und Menschen strahlen Ruhe aus – man glaubt, den Prozess dahinter zu spüren. Schnapp- schüsse sind bei ihm gar nicht möglich: Baselgia arbeitet mit einer Grossbildkamera, Stativ, schwarzem Tuch und unhandlichen Filmplatten. An der Flughafen-Gepäckkont- rolle wäre Baselgia diese Arbeitsweise ein- mal fast zum Verhängnis geworden.
Was ist passiert?
Die Sicherheitsbeamten wollten mich mit den Filmkassetten nicht an Bord lassen. Sie verstanden nicht, was sie da vor sich hatten, und verlangten, dass ich sie öffne. Doch dann wäre meine ganze Arbeit zerstört worden. Erst der herbeigerufene Vorgesetzte liess mich dann an Bord. Mitsamt den ungeöffne- ten Kassetten.
Wäre mit digitalem Fotografieren nie passiert ...
Ich weiss, dass ich mir das Leben so auch manchmal schwer mache. Digitale Fotogra- fie ist nicht schlechter, sondern anders. Für mich kommt sie einfach nicht in Frage.
Weshalb denn?
Weil mir im digitalen Prozess die Seele fehlt. Es gibt drei Phasen in meiner Arbeitsweise: der Moment der Aufnahme, die Zeit danach, wo das Bild zwar latent da, aber nicht sicht- bar ist, bis zur Arbeit in der Dunkelkammer. Diese Zeitspanne kann Tage, Wochen, manchmal sogar Monate dauern. Im Labor, wo ich das latente Bild durch die Entwick- lung erst sichtbar mache, stellen sich unwei- gerlich Fragen zu Wahrnehmung und Wirk- lichkeit und zu meiner Erinnerung. Die kann ja bekanntlich auch mit Täuschung verbun- den sein. Das lückenlose, fast magische Band zwischen Aufnahme und dem fertigen Bild ist Voraussetzung für meine Arbeit.
Ein langwieriger Prozess ...
Es ist ein Prozess der Entschleunigung. Und den merkt man meinen Bildern offenbar an.
Mich machen Ihre Fotos ruhiger ...
Jeder Betrachter darf das sehen, was er möchte. Es ist mir wichtig, Bilder zu machen, die nicht ausformuliert, sondern offen sind für den Betrachter. Oder auch völlig irritieren mögen. Das, was Sie beschreiben, höre ich allerdings immer wieder.
In der Camera Obscura geht es ja auch lange, bis man das Bild erkennt.
Ganz genau. Man entschleunigt. Und zwar ausgerechnet auf dem Berninapass. Es ist ja ein Ort, den man rasch passiert – mit dem Auto oder dem Zug. Es kommt viel an die- sem Ort zusammen: eine archaische Land- schaft, die durch Staumauer, Passstrasse, Militärbauten und Strommasten geradezu domestiziert wird. Es ist eine meteorologi- sche, geologische und geografische Grenze. Und sie bildet die Wasserscheide zwischen Schwarzem und Adriatischem Meer.
Diese Gegend kommt in Ihrer Arbeit immer wieder vor.
Ich bin in Pontresina aufgewachsen, kenne jeden Winkel dieser Gegend. Für mein Pro- jekt «Hochland» beschäftigte ich mich hier mit der Natur als einer Form von Aggregat- zuständen. In einer meiner neueren Arbeit «Bilder der Erinnerung» habe ich etwa Kind- heitsorte aufgesucht und fotografiert. Eben erscheint das Buch «Bernina Transversal» mit einem Bildepos, in dem Fotografie, Ar- chitektur und Landschaft zusammenfinden. Und dabei ist die eingangs erwähne Camera Obscura mit Direktbelichtungen auf Fotopa- pier auch zu meinem Laboratorium gewor- den. So schliesst sich der Kreis ...
www.baselgia.ch www.camera-obscura.ch www.park-books.com
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