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  «Ich konnte den Clown in mir stets bewahren»
Text und Interview: Regula Elsener Steinmann Fotos: Barbara Bamberger
Spricht Corinne Mathis über ihren Beruf, spürt man sofort eine unbändige Leiden- schaft: «Ich bin eine Perfektionistin», be- schreibt die Profiakrobatin aus Wilen bei Wil sich denn auch selbst. Doch da gibt’s auch noch eine andere Seite.
Die meisten Erwachsenen sind froh, wenn sie einen halbwegs gelungenen Purzelbaum hinkriegen. Umso faszinierender ist es, wie Artistinnen und Artisten ihre Körper schein- bar mühelos verdrehen und verbiegen kön- nen. Im Fachjargon nennt man diese Form der Akrobatik «Kontorsion», umgangs- sprachlich entlockt sie einem schlicht ein ungläubiges «Wahnsinn!».
Auch Corinne Mathis verblüfft und verzau- bert bei ihren Auftritten mit absoluter Körper- beherrschung und einem Mix aus Tanz, Handstand- und Pole-Akrobatik. Ihre ersten Lebensjahre verbrachte sie in St. Gallen, später zog die Familie in den Thurgau. Schon damals schlummerte eine Entertainerin in ihr, wie sie im «Best Of»-Gespräch verrät.
Sitzen Sie gerade ruhig?
Ja, wieso fragen Sie?
Weil ich gelesen habe, wie schwer Ihnen das fällt.
(Lacht) Das stimmt, ich stehe tatsächlich lieber – oder bin sonst in Bewegung.
Woher kommt diese Energie?
Die ist einfach in mir drin: Schon als Kind habe ich meine Familie mit kleinen Shows und Kunststücken auf dem Salontisch un- terhalten. Ich kann mich aber durchaus ent- spannen: Am liebsten lege ich mich dazu auf den Boden, sauge die Energie des Unter- grunds auf, mache Dehnübungen und atme ganz tief durch ... Übrigens: Inzwischen sitze ich nicht mehr (lacht).
Als Mädchen machten Sie Ballett, später Gymnastik. Viele sehen das einfach als Hobby. Wann war klar, dass es für Sie mehr bedeutet?
Sehr früh, ich wollte ursprünglich Profi- Ballerina werden. Eigentlich habe ich im- mer getanzt – mein ganzes Leben lang.
Auch während der KV-Lehre. Es kamen Hip-Hop, Modern Dance und Jazz dazu. Daneben wurde ich mit der Gymnastik- gruppe Kreuzlingen mehrfache Schweizer- meisterin, und schliesslich schafften meine Partnerin Kerstin und ich gar den Sprung ins Nationalkader der Sportakrobatik: In diesem Frauen-Duo gewann ich ebenfalls mehrmals den Schweizermeistertitel. Damit ging für mich ein Traum in Erfüllung.
Gemeinsam gewannen Sie internationale Wettkämpfe. Die Europameisterschaften 2015 aber blieben Ihnen verwehrt ...
Ja, die EM war unser grosses Ziel, wir trai- nierten 25 Stunden pro Woche, erreichten die Qualifikation. Doch Kerstins Schweizer Pass wurde nicht rechtzeitig bewilligt. Als Deutsche durfte sie nicht mit mir antreten. Das war eine Riesenenttäuschung. Heute denke ich, dass es wohl einfach so sein musste. Wir sind danach natürlich weiterhin als Duo in Varietés, an Galas und Firmen- anlässen aufgetreten. Ich liebe die Teamar- beit! Man erlebt und teilt so vieles. Inzwi- schen hat Kerstin eine Familie gegründet, seither bin ich vermehrt als Solo-Künstlerin unterwegs.
Sie leben fürs Tanzen, die Bühne... wie gingen Sie damit um, als plötzlich alles geschlossen wurde?
Zu Beginn ist eine Welt zusammengebro- chen. Wie Sie es sagten, ich bin durch und durch Künstlerin, das ist mein Leben – und sichert gleichzeitig meine Existenz. Nach dem ersten Schock und einem mentalen Tief raffte ich mich auf und entschied: Ich
will diese Zeit nutzen, um an mir und meinen körperlichen Defiziten zu arbeiten.
Moment: Sie sind doch topfit! Was mei- nen Sie mit «körperlichen Defiziten»?
Ich habe nun viele Jahre quasi nur für meine Auftritte trainiert, so bildeten sich meine Muskeln natürlich sehr einseitig. Dadurch war ich fast etwas «verkrümmt», was auch immer wieder zu Schmerzen führte. Über Bekannte lernte ich eine fantastische rus- sische Trainerin kennen, die mich nun on- line coacht. Die russische Akrobatik-Schule unterscheidet sich stark von unserer hier in Europa, hat ein ganz anderes Fundament. Genau das baue ich nun auf. Für meine lang- fristige Zukunft ist das entscheidend. Diese Möglichkeit hätte ich ohne die Corona- Zwangspause nicht packen können. Dank diesem Training macht mir die Akrobatik heute mehr Freude denn je zuvor!
Ohne eisernen Willen und Disziplin wäre Ihr Beruf nicht möglich. Färbt das auch auf Ihr sonstiges Leben ab?
Sie werden es nicht glauben, aber privat bin ich das pure Gegenteil: eine Chaotin, die sehr «chillig» drauf ist und nicht immer al- les so eng sieht. Meine Familie und Freunde würden das sofort bestätigen. Gerade weil mein Beruf sehr viel Disziplin erfordert, ist es wichtig, das Lachen dabei nicht zu ver- lieren. Ich möchte auf und neben der Bühne unbedingt nach wie vor Spass haben! Die- sen inneren Clown konnte ich mir zum Glück stets bewahren.
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